Alltägliche Erfahrung und wissenschaftliche Erklärung
Helmut Pape • Helmut Pape leitet in die Wissenschaftstheorie ein (Last Update: 27.03.2014)
Spüren, Wahrnehmen und Wissen: Die alltägliche
Situation des Erkennens
Warum allein das alltägliche Leben und alltägliche
Erfahrungen der Erkenntnis und den Wissenschaften ihren Sinn und
Zweck verleiht
In diesem ersten Teil will ich Sie zu dem Thema, Gegenstand und
der Fragestellung dieser Vorlesungsreihe hinführen und Ihnen
einen Überblick über das geben, was Sie in den nächsten
14 Vorlesungen erwartet. Was ich aber nicht tun werde, kann ich Ihnen
gleich zu Anfang sagen: Diese Vorlesung wird, trotz etlicher
historischer Anknüpfungen, keinen Überblick über die
verschiedenen Richtungen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
geben, die in der Geschichte der Philosophie und Wissenschaft
vertreten worden sind. Diese schwer eingrenzbare, auf jeden Fall
unüberschaubare Geschichte ist bereits von anderen, wenn auch
immer nur unvollständig erzählt worden. Ich verweise nur
auf Ernst Cassirers epochales, auch heute immer noch in Detail wie im
philosophischem Blick konkurrenzloses vierbändiges Werk “Die
Geschichte des Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren
Zeit”, dessen erster Band 1910 erschien.
Einerseits werde ich nicht das hohe Lied vom Fortschritt und
alles allein erkennenden Leistung der Wissenschaften, der
Naturwissenschaften insbesondere oder der Philosophie anstimmen;
andereseits werde ich mich aber auch nicht an dem inzwischen
modischen Lamento beteiligen und alle Wissenschaft und Rationalität
verdammen. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß fast
sieben Milliarden Menschen heute - mehr oder weniger - von der
Naturwissenschaft und Technik leben, und daß nichts dafür
spricht, daß sich das ändern läßt. Daß
ist aber auch kein Freibrief für eine Abkapselung, gar
kriterien- und reflexionslose Entwicklung des wissenschaftlichen,
insbesondere naturwissenschaftlichen Wissens und deren Anwendung. Die
Frage nach der Autorität und dem Anspruch wissenschaftlichen
Wissens lautet deshalb: Was können wir wissenschaftlich wissen
und wie verhält sich dieses Wissen zu anderen Formen des
Wissens? Dies ist eine Frage, die nicht dadurch schon entschieden
ist, wenn wir zugeben, daß für viele Gegenstandsbereiche -
wie z.B. Physik der Elementarteilchen und Molekulargenetik - allein
die Naturwissenschaften kompetente Antworten liefern. Denn daraus
folgt nicht, daß nun alle Bereiche und Themen allein durch
naturwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse entscheidbar sind.
Mir wird es darum gehen, Ihnen im Detail und mit guten Argumenten
von alltäglichen Erfahrung und Fähigkeiten aus aufzuzeigen,
daß wir als normale Alltagsmenschen Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie nutzen können, um unseren eigenen Weg zum
Verstehen von dem zu finden, was Erkenntnis im alltäglichen
Leben, im Traum, in der Kunst und eben auch in den
Naturwissenschaften für uns bedeutet. Ich werde darauf bestehen,
daß das nicht anders geht als dadurch, daß wir
philosophische und naturwissenschaftliche Auffassungen über
Erkenntnis und Wissen für kritisch beurteilen. Nämlich
indem wir sie abwägend, vergleichend, auf unsere Interessen als
Menschen beziehen, die wir in modernen, postindustriellen Kulturen
auf menschenwürdige Weise überleben und leben wollen. Dies
ist dadurch möglich, daß wir uns einen eigenen, auf unsere
heute alltäglichen Erfahrungen und Interessen bezogenen Weg des
kritischen Verstehens bahnen, ja erkämpfen und erobern. Was
dabei dies „Eigene“ und „Alltägliche“
für uns heutige Menschen bedeuten kann, ist eines der Themen
dieser einführenden Vorlesungen. Natürlich werde ich einige
der “alten Fragen” stellen, aber ihnen einen neuen Sinn
zu geben versuchen. Ich werde fragen:
- Was ist Erkenntnis und was ist Wissen?
- Wie können
wir begründen und einsehen, daß eine Meinung so sicher
ist, dass wir ihrer gewiß sind, daß sie als ein
verläßlicher Bestandteil des Wissens gilt?
- Warum gibt
es „wirkliches Wissen und Erkenntnis“ nicht nur in den
Wissenschaften?
- Was kann es für uns bedeuten, etwas zu verstehen oder
wissenschaftlich zu erklären? Kann unser Verstehen mit dem
wissenschaftlichen Erklärungen zusammenfallen?
Wie wir sehen werden, wäre eine Eingrenzung von
Erkenntnis und Wissen auf die Wissenschaften nicht nur falsch,
sondern irreführend. Ja, es würde sogar unser Verstehen der
Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnisleistung beschädigen.
Denn Selbstüberschätzung, macht wie jede Form der
Überheblichkeit, blind gegen das, was andere können. Daß
die Wissenschaft überhaupt die einzig legitime Form des
Erkennens ist, daß nur die Wissenschaften und insbesondere die
Naturwissenschaften, beurteilen können, was wirklich ist und was
nicht. Diese Ansicht wird nicht nur von vielen Wissenschaftlern,
sondern auch in vielen Büchern über Wissenschafts- und
Erkenntnistheorie vertreten. Doch in dieser Vorlesung gehört sie
nicht zu den Annahmen und Urteilen über Erkenntnis und
Wissenschaft, von den die ich aus gehen oder die ich für richtig
und begründbar halte. Doch um auf unsere Frage nach dem Begriff
des Wissens zurückzukommen: Ich möchte keine neue, strikte
Definition von dem vorschlagen, was Wissen und Erkennen „wirklich
ist“.
Bitte beachten Sie, daß gerade dem Begriff „Erkenntnis“
eine Doppeldeutigkeit eigen ist: Wir bezeichnen sowohl den Prozeß,
durch den etwas erkannt wird wie das Produkt dieses Prozesses,
nämlich das Wissen, als „Erkenntnis“.
Doch welchen Anspruch können wir für die Geltung unserer
Erkenntnisse erheben? Ich denke, daß wir niemals zu einer
Meinung gelangen, die ein unumschränkt gültiges, objektives
Wissen ist: Nämlich auf alle Zeiten hin unanfechtbar wahr und
unerschütterlich begründet, so daß wir auch noch
wissen, daß sie objektiv wahr ist. Denn das sind zwei Schritte,
die wir auseinander halten und nicht gleichsetzen sollten: Ich kann
überzeugt sein, daß Grass grün ist, ohne auch deshalb
schon zu wissen oder gar begründen zu können, daß die
Aussage „Grass ist grün“ objektiv und für alle
Zeiten wahr ist.
Doch wie kann ich Ihnen sagen, was Erkenntnis und Wissen ist,
ohne doch wieder auf eine Definition zurückzugreifen, ohne
bereits eine Definition von Wahrheit und Objektivität
vorauszusetzen? Es ist einfacher als Sie vielleicht denken, ohne eine
solche explizite Definition auszukommen. Denn wir können unsere
Überlegungen mit Fällen von Wissen beginnen, - z.B. daß
Gras grün ist, die wir jetzt zweifelsfrei vor uns haben. Etwa
so: Nicht nur ein wenig, sondern unabsehbar viel, haben Sie bereits
erkannt und als Wissen zur Verfügung, wenn Sie den Weg in diese
Vorlesung gefunden haben. Wenn Sie diese ersten Sätze verstanden
haben - wenn Sie jetzt also wissen, was ich soeben gesagt habe -, so
ist dies nur möglich, weil Sie vielmehr als nur die deutsche
Sprache beherrschen und kennen. Sie können nämlich mit
Ihren Sprachkenntnissen nur deshalb richtig - nämlich für
andere Menschen verständlich sprechend - umgehen, weil sie eine
große Menge an unausgesprochenen, stillen nicht-sprachlichen
Wissen erworben und zu ihrer Verfügung haben. Z.B. darüber,
was es heißt, in dieser Zeit als Deutscher oder Deutsche zu
leben, Geld zu verdienen, Bafög zu beantragen, Sohn oder Tochter
zu sein, Kenntnisse und gar Bildung zu erwerben. Erkennen, Wissen und
Leben sind so eng miteinander verknüpft, daß es vielen von
schwerfallen dürfte, hier ein aufklärungsbedürftiges
Problem zu sehen. Für die Selbstverständlichkeit unseres
Alltagswissens gilt Wittgensteins Satz „Die für uns
wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und
Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, - weil
man es immer vor Augen hat.)“ (Philosophische Untersuchungen, §
129)
Doch habe ich indirekt damit bereits eine philosophische
Aufgabe beschrieben: Sie besteht zu einem Teil darin, dieses
Selbstverständliche und Alltägliche des Erkennens und
Wissens auf die richtige Weise explizit zu machen indem wir es
begrifflich fassen und uns verständlich machen. Was die
traditionelle Erkenntnistheorie häufig ausschließt, ist
also Ausgangspunkt. Ich bin überzeugt, daß die praktische
Kompetenz des „Gewußt-wie“ der Ausgangspunkt
unserer Überlegungen sein sollte, wenn wir Erkenntnistheorie
betreiben. Das theoretische Wissen der Wissenschaften ist nur
propositional. Es ist ein „Wissen, daß-etwas-so-und-so-ist“.
Wenn es sich nicht in das „gewußt-wie“ einer
Erkenntnis- und Wissenspraxis umsetzen läßt, bleibt es
nicht nur unbegründet, sondern gleichsam esoterisch: Eine Wolke
von Wortkunstwerken.
Soviel zu den scharfen Abgrenzungen.
Natürlich liegen die Dinge - wie wir noch genauer sehen werden -
weitaus komplizierter. Denn es gibt ja auch ein „gewußt-wie“
der Wissenschaft - nämlich Experiment und Technologie -, das
inzwischen das Handeln des Alltags vielfach überlagert und
verändert. Zwar gilt immer noch jener Satz Wittgensteins „Alle
Begründungen enden irgendwo. Und dann handeln wir.“
Aber ist nicht in der Praxis des Handelns und der Prüfung der
Ergebnisse, unserer Handlungserfolge, schon immer auch die Korrektur
unserer praktischen Kompetenz mit angelegt? Ist das Bestehen auf dem
Primat der praktischen Kompetenz tatsächlich die richtige Weise
Erkenntnis und Wissen verständlich und damit rational zugänglich
zu machen? Was ist es, was wir darstellen und erklären sollten,
damit wir vielleicht sogar unsere Fähigkeit, Kenntnisse und
Wissen zu erwerben besser einsetzen, durch Lernen weiter entwickeln
und verbessern können?
Mit diesen Sätzen wollte ich zum
einen auch darauf aufmerksam machen, daß die Verbesserung der
Erkenntnisfähigkeit und die daraus resultierende Vermehrung des
Wissens wertvoll und somit anstrebenswert ist, daß Sie aber
andererseits auch bereits über einiges an Wissen praktisch
verfügen und daß dieses praktische Wissen dem
theoretischen Wissen voraus liegt und in diesem Sinne umfassender
ist. Auch deutete ich an, daß das Interesse an der Verbesserung
und Vermehrung des Wissens ebenso im alltäglichen Wissen
angelegt ist. Wir stehen also vor der Aufgabe, die Regulierung,
Korrektur, Verbesserung und Veränderung des praktisch
ausgewiesenen Wissens selbst als ein Teil von gelingender Praxis zu
erläutern. Wenn das gelingt, wird zum anderen sich daraus selbst
eine Kompetenz für das Beurteilen des Bereichs und der Bedeutung
wissenschaftlicher Ansprüche auf Kontrolle und Herrschaft über
unser Leben sich ergeben müssen.
Lassen Sie mich diesen letzten, etwas unklaren Punkt anhand
einer anderen Frage ergänzen: Ist es nicht manchmal besser,
nichts oder nicht alles zu wissen? Zeigen nicht die Atombombe, die
Umweltverschmutzung und die genetischen Manipulationen an Lebewesen,
ja sogar Menschen, daß es Wissen und technologische Verfahren
gibt, die schädlich sind? Zwar schützt in den
Rechtsverhältnissen, die der Staat mit Strafe bewährt hat,
Unwissenheit vor Strafe nicht. Ansonsten aber interessieren wir uns
im Alltag nur für das Wissen, was uns weiterhilft, nützt
oder auf irgendeine andere Weise fruchtbar mit dem verknüpft
werden kann, was wir tun. Sicher, einige von uns haben sehr spezielle
Interessen ausgebildet. Da gibt es diejenigen, die leidenschaftlich
an der Biologie und Anatomie der Spinnen, der Kunst der Renaissance
in Oberitalien gegen Ende des 15. Jahrhunderts, an den Romanen von
Marcel Proust oder den christlichen Häresien und Hexen im
Mittelalter interessiert sind. Und die Ergebnisse, die solche
engagierten Amateure erzielen, sind häufig sogar nach
wissenschaftlichen Standards bedeutungsvoll - sie wirken zurück
auf die Wissenschaften. Das Phänomen der Amateure ist für
unsere einleitenden Erwägungen zur Erkenntnistheorie in
zweierlei Hinsicht wichtig. Was die engagierten Laien zeigen, ist zum
einen, daß sie
1.) über die normale, durchschnittliche
Ausprägung von Interessen bei den meisten anderen Menschen weit
hinausgehen können - und trotzdem interessierte Laien bleiben.
Es scheint als ob sie einen Weg gefunden haben, einen anderen, ihren
eigenen Weg zur Erkenntnis zu finden.
Wichtiger aber ist noch für
unsere Frage nach den Rückbezug auf die kompetente, kritische
Praxis
2.) daß sie zeigen, daß es einen wirksamen
Zusammenhang zwischen individueller Motivation und Erkenntnis gibt,
der für alle Arten von Erkenntnis - ob alltäglich,
religiöser oder wissenschaftlich - wichtig ist und der schon als
Antrieb und Korrektiv von Wissenschaft im Alltag angelegt ist: Die
Motivation des Einzelnen, die Stärke seines individuellen
Erkenntnisinteresses.
Man kann sagen: Der Grad und die Fokussierung eines Interesses
oder einer Absicht bestimmt häufig das Ausmaß der
Anstrengung, das in ein Thema investiert wird. Diese Einsicht ist
z.B. von Jürgen Habermas in seinem Buch „Erkenntnis
und Interesse“ eher soziologisch-abstrakt an philosophische
Positionen herangetragen worden. Einen noch dichteren Zusammenhang
zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und dem Interesse des
Einzelnen am Erkenntniserwerb, nimmt der amerikanische Philosoph
C.S. Peirce an. In Peirces Erkenntnistheorie - er nennt sie
Logik, manchmal auch direkt „logic of science“ - geht
alle Wissenschaft und Philosophie auf den Wunsch zum Lernen zurück.
Er behauptete deshalb sogar, daß es in einer Hinsicht nur eine
Regel der Logik gibt, „daß man, um zu lernen, den
Wunsch haben muss zu lernen, und sich dabei nicht mit dem
zufriedengeben darf, was man schon zu denken geneigt ist.“
(DLU, S. 241) Das Lernen sollte nach Peirce immer weiter
fortschreiten dürfen: „Behindere niemals den Gang der
Forschung“ ist deshalb eine von Peirces
wissenschaftshteoretischen Maximen.
Wir wollen nun dem Gedanken der direkten Korrektur und
Eingrenzung von Wissenschaft durch das alltägliche Urteilen und
Denken nachgehen. Ein solches begrenzendes Urteil über
Wissenschaft zeigt sich z.B. in der Frage, ob die Wissensvermehrung
tatsächlich, wie Peirce meint, immer anstrebenswert, wertvoll
und in unserem Interesse? Wir haben heute, ich erwähnte es
schon, einige begründete Zweifel. Zum einen kann niemand von uns
alles wissen - nicht einmal alles von dem, was heute an Wissen
existiert, geschweige denn „alles“ im Sinne von „alles
Wissbare“. Außerdem haben naturwissenschaftliche
Ergebnisse, gerade weil sie richtig waren, die materiell-technische
Grundlage für die Katastrophen der Moderne gelegt.
Drittens träumen in den heutigen komplizierten
Industriegesellschaften einige von uns von einem Zustand der Unschuld
ohne Erkenntnis: Wie schreibt schon die Bibel? Wenn ich nicht vom
Baum der Erkenntnis esse, dann kann ich auch nicht sündigen.
Adam konnte erst nachdem er den Apfel vom Baum der Erkenntnis
gegessen hatte zwischen Gut und Böse, zwischen Wahr und Falsch,
unterscheiden. Wir können zwar nicht zu dem Zustand der Unschuld
zurück, weil wir - diese 7 Milliarden Menschen auf dieser Erde -
von unserem Wissen, nämlich den Technologien, die uns die
Wissenschaften zur Verfügung stellen, leben. Im wörtlichen
Sinne: Von der Nahrung über die Kleidung bis zu den
Fortbewegungsmitteln, geht für 80 % der Menschen kaum mehr etwas
ohne technologisch geformte Produkte. Die sogenannten
unterentwickelten Länder verstehen ihren Zustand so, daß
sie ihn durch den Mangel an wissenschaftlicher Technologie
beschreiben.
Doch brauchen wir Wissen und Wissenschaft immer,
überall und in jeder Hinsicht? Das wäre nur dann der Fall,
wenn nicht nur vieles, sondern alles am menschlichen Leben von dem
abhängt, was sich mit Wissen und insbesondere den Produkten der
Wissenschaften erreichen läßt. Aber spricht wirklich
soviel für die Annahme mancher Menschen, daß buchstäblich
alles - Glück, Erfüllung, Befriedigung, Kunst, Kultur,
Fantasie - von wissenschaftlichen Erkenntnissen abhängt oder
positiv beeinflusst werden kann? Wenn wir so denken, ist der Sinn,
den wir dann dem Wissen und seinen Anwendungen zusprechen,
tatsächlich allein den Wissenschaften geschuldet? Um diese Frage
nach dem Sinn des Wissens wirklich beantworten zu können, können
wir vorbereitend zunächst die Frage beantworten:
Was ist im Allgemeinen der Zweck des Wissens, nachdem wir streben?
Bevor wir etwas über den Zweck des Wissens sagen können,
müssen wir provisorisch bestimmen, was Wissens ist. Hier sind
wir in der angenehmen Lage, von einer Definition des Wissens ausgehen
zu können, die bereits vor über 2000 Jahren von Plato
vorgeschlagen worden ist.
Gemäß der Plato-Definition weiß eine andere
Person S irgendetwas, nennen wir es p - z.B. das Gras grün ist
-, wenn folgendes gilt:
(1.) S glaubt, daß p
(2.) p ist
wahr
(3.) S hat gute Gründe dafür, daß p.
Von einem Wissen sprechen wir also dann, wenn es sich um eine
wahre und begründete Meinung handelt. Wenn eine Meinung falsch
ist oder wenn eine Person ganz zufällig, ohne dies begründen
zu können, eine Meinung hat die falsch ist, ist ebenfalls kein
Wissen. Daß Gras grün ist, ist wahr. Meine Gründe,
die dafür sprechen, daß Gras grün ist, sind einfach:
In allen wichtigen Fällen, wo jemand das erblickt, was wir Gras
nennen würden, so sieht er oder sie, daß es grün ist.
Und sagt man nicht: Sehen heißt wissen? Eine gute und
philosophisch achtbare Begründung für eine Meinung ist also
eine Wahrnehmung, die viele Leute teilen.
Der platonische Wissensbegriff begünstigt die Wahrheit
und die Begründung als die entscheidende Merkmale des Wissens.
Nun stellt sich wieder die Frage: Warum? Was ist der Zweck, der von
wahren, begründeten Meinungen erfüllt wird - jedoch nicht
von falschen und unbegründeten Meinungen? Welcher Zweck ist es,
der für uns den Wert des Wissens als wahrer Meinung und damit
sogar der Wissenschaft begründet? Nun, ich denke ein
Zusammenhang liegt auf der Hand, wenn wir von unserem alltäglichen
Umgang mit den Meinungen ausgehen, die wir sicher zu wissen glauben:
Wir benötigen wahre Meinungen, die wir verstanden haben und
begründen können, um ihnen entsprechend handeln zu können.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den englischen Philosophen Edward
Craig zitieren, der die Gabe hat, solche Dinge in wunderbarer
Klarheit zu formulieren:
„Wer handelt, braucht
Meinungen, an denen sich sein Handeln orientieren kann. Ich will
Honig auf mein Brot streichen. Dazu brauche ich sofort wenigstens
drei Meinungen: daß das da Honig ist, daß mein Messer
dort liegt, und hier eine Scheibe Brot. ... irgendwelche
diesbezüglichen Meinungen muß ich haben, sonst bin ich in
der Lage eines Menschen, der etwas will, der aber nicht die geringste
Ahnung hat, was er machen soll, damit der Erwerb des fraglichen
Gegenstandes auch nur im mindesten wahrscheinlicher wird. ... Da wir
zum Handeln Meinungen brauchen, haben wir ein Interesse daran, daß
unsere Meinungen wahr sind. ... Wer seine Handlungen an wahren
Meinungen orientiert, hat viel bessere Erfolgschancen als der, der
nach falschen Meinungen handelt.“ (E. Craig, Was wir wissen
können, S. 40f.)
Craig formuliert den letzten Satz sehr vorsichtig. Denn er
weiß und im folgenden zeigt er dies auch, daß es sehr
wohl manchmal möglich ist, daß unser Handeln auch von
falschen Meinungen erfolgreich geleitet wird. Aber das sind eben nur
wenige und merkwürdig konstruierte Ausnahmen - etwa wenn z.B.
sich zwei falsche Meinungen und die Tatsachen so ergänzen, daß
sie sich wechselseitig aufheben. Doch in den überwiegenden Zahl
der Fälle sind es nur die wahren Meinungen, die einer oder
mehreren Personen ermöglichen, zu handeln.
Denn dies ist ja
der soziale Aspekt der Wahrheit und der soziale Charakter des
Wissens: Wenn mein Handeln von wahren Überzeugungen ausgeht, so
werde ich meistens finden, daß auch andere Menschen diese
Überzeugungen teilen können. Ich weiß dann auch, wenn
ich ihre Interessen und Zwecke kenne, wie meine Mitmenschen handeln
werden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn wir nur koordiniert
und gemeinsam erfolgreich handeln können. David Humes
Beispiel für eine solche Handlung sind zwei Leute in einem
Ruderboot. Wenn beide sich einig sind, so daß sie in dieselbe
Richtung rudern, kommen sie zum Ziel. Rudert jedoch der eine in die
eine und der andere in die entgegensetzte Richtung, so kommen sie
nicht von der Stelle: Das Boot dreht sich im Kreis. In diesem
Beispiel geht es um die Koordination des Handelns und um die Wahrheit
des Wissens über die Welt nur in zweiter Linie. Aber damit ich
mich auf das Handeln von anderen Menschen einstellen kann, muß
ich auch wissen, was mein Gegenüber zu tun beabsichtigt.
Wir haben nun die gewünschte Auskunft über den
allgemeinen Zweck des Wissens gefunden. Wir können sehen, warum
Wissen und Wissenschaft zu allen oder jedenfalls den meisten Aspekten
unseres Lebens und der sozialen und materiellen Umgebung einen
handlungsbezogenen Zugang eröffnet. Was wir wissen, können
wir uns und anderen verständlich machen, in dem wir es
beschreiben. Doch ist keineswegs in jedem Fall dieser Wissenszugang
wichtig oder gar entscheidend für den Umgang mit dem Inhalt des
Erkannten. Zwar gibt es fast immer etwas, das wir wissen und somit
mitteilen können. Aber nicht immer wollen wir handeln oder ist
das durch Wissen ermöglichte Handeln, auch wenn es erfolgt,
dasjenige, was für uns wichtig ist. In allen Fällen, wo wir
nur genießen, träumen, ahnen, spüren, wo wir z.B.
etwas oder jemanden bewundern, verehren, anbeten, träumerisch
vorstellen oder wo wir einem anderen Menschen gegenüber
Anerkennung, Hass, Liebe usw. äußern, ist nicht
entscheidend, ob das, was wir wissen, auch wahr ist. Ja, es kann
sein, daß wir ganz bewusst die Unwahrheit sagen oder uns von
dem lösen, was wir als wahr herausgefunden haben. In Bezug auf
die Verhältnisse während der Nazizeit hat der Philosoph
Ludwig Marcuse einmal gesagt: „Ist es nicht besser,
wenigstens im Denken die Wahrheit furchtbarer Verhältnisse
mißachten zu können?“
In anderen Fällen werden wir z.B. durch eine emotionale
Äußerung, das erst erzeugen, was wir als Beziehung zu
einem anderen Menschen anstreben. Auch ist z.B. ein Bild malen etwas
anderes als aufgrund eines Wissens, daß etwas wahr ist, auf
bestimmte Weise zu handeln. Wie immer ein Maler zu dem gelangt, was
später das fertige Bild sein wird: Es gibt keine wissbare
Wahrheit, die er kennen könnte, um sie dann durch Malen einfach
in ein Gemälde umzusetzen. Dies letzte Beispiel zeigt aber auch
sehr schön die Allgegenwart des Wissens: Natürlich muß
auch der Maler, bevor an seiner Leinwand arbeitet eine Menge über
Farben, Pinsel, Leinwände, die Geschichte der Malerei wissen.
Aber ich kann all das wissen, was der Maler auch weiß, ohne in
der Lage zu sein, durch das Umgehen mit Farben, Pinseln, Leinwänden
und Ideen aus der Geschichte der Malerei zu einem Bild - schon gar
nicht zu demselben Bild - zu gelangen.
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